Workshop · Berlin

03.07.2024 · Ganztags
Dokumentarische Evidenz – Zu einem besonderen Genre sprachlicher und praxeologischer Vergangenheitserkenntnis

In allen Vergangenheitserzählungen – ob wissenschaftlich oder nicht – erscheint das historische Dokument oder das dokumentarische Prinzip als Schlüsselargument der avisierten Evidenz. Dokumenten und Dokumentarischem wird bereits im Alltagsverständnis eine hohe Autorität zugesprochen. In erkenntnistheoretischen Reflexionen kommt ihnen a priori ein hoher Stellenwert zu. Als Schriftstück, als Fotografie oder historische Filmaufnahme tritt das Dokument als Beleg oder sogar Beweis für Faktizität und Authentizität auf. Es reklamiert eine besondere Bedeutung und formuliert als Prinzip eine allgemeine Verbindlichkeit, als sei es per se der Wahrheitsgarant der eigenen Vergangenheitserzählung.

Dokumentationen sind ein eigens zu betrachtendes Genre. Der Dokumentarismus formuliert seinen Anspruch beispielsweise dadurch, dass er Texte von anderen Texten unterscheidet und sie durch Anführungszeichen als Zitat kenntlich macht oder indem er Bilder und Filmaufnahmen so kommentiert, dass sie aus einer Illustration zum Argument werden. Doch auch der Dokumentarismus benötigt Narrativität, schafft diese zugleich mit, arbeitet ihr voraus, gibt ihr eine Richtung und bereitet so die Glaubwürdigkeit von Aussagen vor, die dann in Para- und Meta-Texte ausgelagert werden. So betrachtet haben alle Dokumente immer Anteil an beidem, an Text und Metatext. Sie halten Distanz zum herkömmlichen Text und sind mit diesem zugleich eng verwoben.

Darüber hinaus taucht das dokumentarische Prinzip als eine Manifestation von Praktiken auf, etwa im Reenactment von historischen und mythischen Vergangenheiten, in Verkleidungen, Inszenierungen und wörtlich verstandenen ›Verkörperungen‹. Dabei sind es nicht nur die vermeintlich originären Praktiken der Dokumentierten, die ihre Spuren indexikalisch am Dokument hinterlassen, sondern auch die operative Handhabung von Dokumenten in weiteren Situationen und Praxiszusammenhängen: Das Dokumentieren und der Umgang mit Dokumenten (sie zu archivieren, zu analysieren, zu edieren, zu publizieren) unterliegen Veränderungen auch durch Praktiken in der Zeit. Diese spezifische Sicht auf Dokumente, als handhabbare, spurbehaftete und transformierte Medien des Wissens, lässt sie – vielleicht kontraintuitiv zum gewohnten Begriff – als fluide, dynamische und als soziale, kulturelle, mitunter als politisch und rechtlich verhandelte und zu verhandelnde ›Praxis-Gegenstände‹ erscheinen.

Für die am Wert der Vergangenheit interessierte Forschung bedeutet dies, die Veränderbarkeit der dokumentarischen Erkenntnisfundamente ebenso anzuerkennen und zu reflektieren wie die Transformationen, die die eigenen Arbeiten an Dokumenten möglicherweise verursachen. Genauer betrachtet basiert der Evidenzcharakter des Dokumentarischen also auf textlichen oder auch praxeologischen Verfahrensweisen, Praktiken und Zuschreibungen, die sich wandeln, möglicherweise auch in Konkurrenz zueinander stehen. Schon allein die Tatsache, dass das Vorzeigen und Ausstellen von Dokumenten und Dokumentensammlungen selbst ›Zeit‹ und Geschichtlichkeit enthält, verweist auf die hier besonders interessierende Historizität der dokumentarischen Evidenz.

Veranstaltungsort:

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Ilse-Zimmermann-Saal, Pariser Str. 1, 10719 Berlin

Referent/innen:

Nicolas Berg (Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow), Barbara Picht (Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung)
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